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sandra

LESEZEIT: 03-05 min

Ich war das Mädchen ohne Namen. So stand das in meinen ersten Dokumenten. Ich war einen Monat alt, meine Mutter war abgehauen, mein Vater stritt seine Vaterschaft ab. Das Jugendamt hat lang versucht, ihn dazu zu bewegen, mir einen Namen zu geben, aber nein. Im Zentralkinderheim haben sie mich anfangs Mopsi genannt, nach einem Jahr war ich dann die Alexandra beziehungsweise die Sandra.

Dass ich die ersten Jahre in diesem Zentralkinderheim in der Semmelweißklinik untergebracht war, das war mein großes Glück, weil dort ging es mir gut, und man sagt ja, die ersten drei Jahre, das sind die wichtigsten. Wenn es von Anfang an blöd gelaufen wäre, wenn ich von Anfang Gewalt erfahren hätte, dann hätt ich das alles nicht geschafft. Dann wär ich nicht so stark und stur geworden. So aber hab ich eine gute Basis, ein Grundvertrauen.

Natürlich sind da heute auch mein Mann, seine Familie und meine Tochter, die mir Kraft geben. Und nicht zuletzt die Grätzl-Touren bei den Backstreet Guides. Die positiven Reaktionen der Leute. Wenn du spürst, sie haben nach deiner Führung etwas gelernt, haben jetzt mehr Verständnis, warum Menschen auf der Straße landen.

Nach dem Zentralkinderheim bin ich zu Pflegeeltern gekommen, ins Burgenland. Das war früher gang und gäbe: Die Bauern haben sich die Kinder geholt zum Arbeiten. Der Pflegevater hat  in Wien gearbeitet, die Pflegemutter daheim in der Landwirtschaft. Die war sehr aggressiv, cholerisch, hat dich verprügelt nach Strich und Faden, wenn du nicht ordentlich gearbeitet hast. Sie hat vor meinen Augen geschlachtet, mir wird heute noch übel, wenn ich Blut seh. Sie hat mich immer wieder ins Nachtkastl eingesperrt, das war halt nicht so prickelnd. Auch das Scheitlknien nicht. Ich hab schließlich angefangen, ins Bett zu machen. Da war ich so fünf oder sechs. Das war dann für die Pflegemutter mehr Schaden als Nutzen, also hat sie mich ins Heim abgeschoben, nach Biedermannsdorf, in ein kirchliches Mädchenheim.

Das Heim war so ein Vierkanthof, und da war eine Pforte, da bist reingekommen, dann haben sie dir alles weggenommen, wirklich alles.

Da stehst du nackt da, und dann wird dir das Heimgewand hingeschmissen und das ziehst du dann an, du hast nichts eigenes mehr.

Da stehst du nackt da, und dann wird dir das Heimgewand hingeschmissen und

das ziehst du dann an, du hast

nichts eigenes mehr.

 

Du hast dort auch keine Freundschaften schließen können, weil du nie wusstest, wer verrät dich bei den Nonnen. Und diese Nonnen waren weit weg von Muttergefühlen oder Nächstenliebe. Einfach nur Drill und Schläge. Und Missbräuche: Da war ein Pfarrer, der im Heim ein Zimmer gehabt hat, und der hat sich die Chormädchen geholt, wenn ihm fad war.

Irgendwann hat mein Vater mich doch anerkannt. Um keine Alimente zahlen zu müssen, hat er mich in seine neue Familie geholt. Die Polizei, das Jugendamt, alle haben gewusst, dass er gewalttätig ist, egal. Er war Stemmer, Gewichtheber, hat da Wettkämpfe bestritten. Sprich, wenn der dir eine betoniert hat, dann bist geflogen, da hast kein Red Bull gebraucht. Irgendwann hab ich mir gedacht, das kann es nicht sein, und bin ausgerissen.

Also war ich mit neun Jahren das erste Mal auf der Straße, besser gesagt im Park, in der Venediger Au, auf einem Spielplatz. Das war dann für zwei Monate mein Revier. Das Geile war, ich hab da Freundschaften geknüpft, ich konnte spielen, es war Freiheit pur. Es hat mich keiner angerührt, es hat mich keiner geschlagen oder beschimpft.

Übernachtet hab ich in den umliegenden Häusern, ganz oben, vor der Dachbodentür. In den 1970er Jahren hat jedes Kind in Österreich einen sogenannten Wetterfleck gehabt. Das war so ein Loden-Poncho, der war warm, und wenn es kalt war, hab ich mich darin eingemummelt, und wenn es heiß war, hab ich mich draufgelegt, das war ideal. Der Dealer meines Vertrauens war der Konsum. Dort hab ich alles gestohlen, was ich können hab, nur Süßes natürlich. Ich war also zwei Monate lang im Zuckerrausch. Das Duracell-Haserl war nix gegen mich.

Nach zwei Monaten bin ich leider beim Klauen erwischt worden, und bin dann in die KÜST gekommen, die sogenannte Kinderübernahmestelle. Das war ein ganz spezielles Übergangsheim, von dort aus sind die Kinder auf ganz Österreich aufgeteilt worden.

Das Spezielle: Du bist in so einer Glasbox untergebracht gewesen. Nirgends ein Winkel, um dich zu verstecken. Du bist immer sichtbar. Da haben sie uns beobachtet und Experimente mit uns gemacht, psychisch und mit Medikamenten, das war nicht so leiwand.

Das Spezielle: Du bist in so einer Glasbox untergebracht gewesen. Nirgends ein Winkel, um dich zu verstecken. Du bist immer sichtbar. Da haben sie uns beobachtet und Experimente mit uns gemacht, psychisch und mit Medikamenten, das war nicht so leiwand.

 

Dann bin ich zurückgekommen nach Biedermannsdorf, juhu. Hab ich schon erzählt, dass ich stur war? Jedenfalls hab ich dort immer etwas angestellt, um allen zu zeigen, dass ich da bin.

Mit zwölf Jahren hab ich erfahren, dass meine Mutter von Italien zurückgekommen ist, und ich hab dann auch zu ihr dürfen. Das hat mich gerettet, weil wahrscheinlich hätt ich wie viele andere Heimkinder Suizid begangen. Meine Mama war Alkoholikerin und natürlich nicht so perfekt wie ich sie mir immer vorgestellt habe, aber sie hat mir viel ermöglicht. Wenn du bedenkst, du bist da zwölf Jahre lang eingesperrt, dann ist das normale Leben plötzlich die Freiheit pur. Du kannst hingehen zum Fernseher, ihn einfach aufdrehen und schauen, was du willst.

Ich hab mich mit meiner Mutter bestens vertragen, wir waren beste Freundinnen, alles vergeben, überhaupt nachdem ich erfahren hab, dass sie am Wilhelminenberg war. Ich war schon in einem schlimmen Heim, aber sie, sie war in der Nummer Eins, das war ja ein Pädophilenheim. Dass dort heute Trauungen stattfinden, find ich ziemlich unverschämt.

Ich war mit 16 noch einmal ein Jahr lang auf der Straße, bin mit Punks herumgezogen. Dann hab ich meine Lehre abgeschlossen und sehr lange ganz normal gelebt, wie jede andere, hab gearbeitet, bin brav mit der Gesellschaft mitgeschwommen, und hab gedacht: Mir kann nix mehr passieren. Doch, kann. Ich bin dann mit 46 noch einmal ordentlich auf die Schnauzn gefallen und war vier Jahre lang wohnungslos. Mehr davon erzähl ich bei meiner Grätzltour. Wie geht es Frauen in Wien, wenn sie obdachlos oder wohnungslos werden, das ist mein Schwerpunkt-Thema.

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